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Eine Theaterschule für Straßenkinder und andere Kids

Fragen zum Theaterprojekt - Interview mit Rüdiger Wilms

Wie ist die Idee für das Theaterprojekt entstanden?
Wenn es die Überwindung von sozialer Ausgrenzung und Randständigkeit und in diesem Kontext um Ansätze der Persönlichkeitsbildung geht, dann bevorzuge ich Bildungsformen, in denen - wie im Theater - Aneignung und Expression eng miteinander verflochten sind. Das Theater ist ein Raum des Forschens, Experimentierens und kreativen Gestaltens, das Gewinnens von Erkenntnissen und Sichtweisen über das, was in meiner Welt war, was ist und was werden könnte, was mich berührt und meinem Dasein Sinn und Richtung verleiht. Überhaupt: Ich kann mir keine Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung vorstellen, in der nicht eine künstlerische Aktivität, in diesem Fall das Theater, einen bedeutenden Stellenwert einnimmt.
Was hat Sie dazu motiviert?
Meine Biographie ist durch kontinuierliche und vielfältige Berührungspunkte mit dem Theater gekennzeichnet, wenn nicht gar geprägt. Diese Erfahrungen möchte ich gerne an andere weitergeben und sie dazu motivieren, sich Fragen auszusetzen, die den Kern ihrer Persönlichkeit als existenziell bedeutsame Fragen berühren und sich mit ihnen künstlerisch im Theater auseinanderzusetzen.
Wie kam der Kontakt zu Patio 13 zustande?
Angeregt durch Publikationen (z.B. Plaza Bolívar) und Filmdokumentationen (z.B. Cantaré Cantaras) meines Kollegen Hartwig Weber zur Straßenkinderproblematik in Kolumbien schloss ich mich schon in der Anfangsphase der Projektgruppe Patio 13 an. In Bezug auf meine kulturellen Aktivitäten intensivierte sich die Einbindung in das Projekt im Laufe der Jahre. Schließlich entwickelte sich das Theater zu einem eigenständigen Inhaltsbereich der Straßenkinderpädagogik.
Nach welchen Kriterien wählen Sie die Straßenkinder aus, die mitspielen dürfen?
Die Beteiligung von Straßenkindern an unseren Theaterprojekten in Kolumbien kann nur exemplarischer Natur sein - wie Tropfen auf dem heißen Stein (am Mahagonny-Projekt sind 10 bis 12 in Eingliederungsmaßnahmen befindliche Straßenkinder beteiligt, das ist ein Drittel der Mitwirkenden). Entscheidend für die Auswahl sind nicht ausgereifte Kompetenzen, sondern Spielfreude, Leidenschaft für das Theater, Durchhaltefähigkeit und die Bereitschaft, sich neuen Erfahrungen auszusetzen. Manchmal sind es Zufälle, die einzelne Straßenkinder ins Ensemble führen.
Warum haben Sie sich für die Aufführung von Brechts „Mahagonny“ entschieden?
In Kolumbien ist zurzeit in Ansätzen so etwas wie eine Aufarbeitung der Ära Pablo Escobar (1993 getöteter Drogenzar des Medellin-Kartells) erkennbar. Zu jener Zeit war alles käuflich: Politik, Justiz, natürlich auch Fußballergebnisse. Mehr oder weniger befand sich das ganze Land als Geisel in den Händen Escobars. In Brechts Frühwerk „Mahagonny“ vernehmen wir die Botschaft: Die Anarchie des Geldes, machtvoll und unkontrollierbar wie ein Hurrikan, regiert das öffentliche und private Leben. Kein Geld zu haben, ist das schlimmste aller Verbrechen und wird mit der Todesstrafe geahndet. So liefern wir mit einem deutschen Dramatiker der Moderne einen Beitrag zur Diskussion kolumbianischer Realität.
Nach welchen Kriterien wählen Sie die Stücke aus, die Sie mit den Kindern einstudieren?
Oberstes Prinzip bei der Auswahl von Stücken oder der Erarbeitung von Eigenproduktionen ist die Lebens- und Realitätsbezogenheit der Themen und Inhalte. Dies gilt nicht nur für die Mitwirkenden. Wir fragen uns immer: Interessieren sich die Zuschauer für unsere Geschichte? Können sie sich und ihre Lebenswirklichkeit in dem Stück wieder finden? Gelingt es uns, in den Aufführungen mit den Zuschauern einen gemeinsamen kommunikativen Raum zu kreieren? Können auch sie eine neue Erfahrung machen? Können wir ihre Herzen erreichen, ihr Gemüt und ihren Verstand bewegen?
Was ist das Besondere an der Arbeit mit Straßenkindern?
Straßenkinder erfüllen in ihrem Spiel in besonderer Weise das Kriterium der Authentizität. Man glaubt ihnen das, was sie spielen. Es gelingt ihnen in einem körperbezogenen Spielansatz den reichhaltigen Bestand an Lebenserfahrungen, über den sie verfügen, zur Ausgestaltung ihrer Figuren und der Spielsituationen zu nutzen. Oftmals beobachten wir, wie sich die Instabilität ihrer Lebenssituation in der Zerbrechlichkeit widerspiegelt, in der sie sich selbst in einer Spielfigur auf der Bühne verkörpern.
Proben Sie mit Straßenkindern anders als mit „normalen“ Kindern?
Nein. Oder nur insofern, als es grundsätzlich geboten ist, sich in der Probenarbeit auf die individuellen Voraussetzungen der Mitwirkenden einzustellen. Von den eingangs genannten Wesensmerkmalen einer produktiven Theaterarbeit möchte ich keines verschenken, schon gar nicht mit dem Hinweis, man habe es ja nur mit Laien oder Randgruppen zu tun. Die Ernsthaftigkeit und Intensität der Arbeit, das Bemühen um die Stimmigkeit des Produkts, die Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst, den Mitspielern und den Zuschauern sind auch im Theater mit Schülern und Straßenkindern unverzichtbare Kriterien und müssen gegebenenfalls in jeder Probe neu erkämpft werden.
Warum arbeiten Schüler des Heidelberger Instituts für Heilpädagogik und Erziehungshilfe beim Theaterprojekt mit? Welchen Nutzen ziehen die Schüler daraus? Wie kam es zur Kooperation?
Das Institut hat in der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen einen besonderen Schwerpunkt seines pädagogischen Arbeitsansatzes gefunden. Neben der bildnerischen Gestaltung und der Musik steht das nach außen geöffnete Institutstheater Baggenuff im Zentrum dieses Bereichs. Die Möglichkeiten der Thematisierung des Selbst, die Förderung der künstlerischen Gestaltungskräfte wirken sich in vielen Fällen heilend und stabilisierend auf die jungen Persönlichkeiten aus, ebnet ihnen Wege zur Ablösung aus entwicklungshemmenden Umklammerungen und Fixierungen oder pathologischen Formen der Selbstbezogenheit. Interesse an gesellschaftlichen Prozessen und eine prinzipielle Weltoffenheit weiten den Blick für die Wahrnehmung prekärer Lebenssituationen „des anderen“. Als ich den Jugendlichen des Instituts vom Patio 13 berichtete, wollten sie mehr erfahren und am Ende unmittelbare Eindrücke an Ort und Stelle gewinnen. Seit 2002 ermöglicht das Institut die Beteiligung einzelner Jugendlicher an kolumbianischen Theaterprojekten, was die Attraktivität der Arbeit vor Ort noch steigert. Bei einigen Jugendlichen löste die Begegnung mit der so widersprüchlichen kolumbianischen Realität tief greifende Veränderungen aus bis hin zum Wandel des Lebenskonzepts.
Welchen Nutzen ziehen die Studentinnen der Normal aus dem Theaterprojekt?
Die Schülerinnen und Studentinnen der Normal qualifizieren sich über die Teilnahme an den Theaterprojekten für einen eigenständige Theaterarbeit mit Straßenkindern. Wie in allen künstlerischen Bereichen ist auch hier der eigene praktische Erfahrungshintergrund ein wichtiger Qualifizierungsbaustein.
Wie sind Sie darauf gekommen in Copacabana eine Theaterschule aufzubauen? Gibt es weitere Theaterschulen dort? Welche Konzeption steht dahinter?
Der Aufbau einer Theaterschule in Copacabana ist als kulturpädagogisches Projekt in Form einer Asociación gedacht. In enger Anbindung an die Normal soll sie künstlerisch ambitionierten Schülerinnen, Schülern und Studierenden neben Schule und Studium die Möglichkeit vertiefter Erfahrungen im Medium des Theaters bieten. Zugleich soll die Theaterschule eine Anlaufstelle für Straßenkinder werden, die über die Teilnahme an Workshops oder Theaterprojekten einen Anreiz zur Entwicklung von Bildungsbedürfnissen und einen Zugang zu für sie geeigneten Bildungsformen finden könnten. Durch den interkulturellen Charakter der Theaterschule (und der damit verbundenen Pflege fremder Sprachen im Rahm3en des Möglichen) soll auch hier dem Prinzip der Weltoffenheit Rechnung getragen werden.
Natürlich gibt es in Copacabana andere kulturelle bzw. kulturpädagogische Einrichtungen mit differenzierten Angeboten, so z.B. das „Haus der schönen Künste“ oder das städtische Kulturhaus mit Bibliothek. Jedoch ist der Bedarf um ein Vielfaches höher und Straßenkinder trifft man bisher in diesen Häusern nicht an.
Die Jugendmusikbewegung in Venezuela zeigt, wie junge Menschen massenhaft an künstlerische Aktivität herangeführt werden können, in einfacher und methodisch ungeahnt innovativer Weise, mit verblüffenden Ergebnissen, die selbst Simon Rattle, als er das Jugendorchester in Caracas dirigierte, in Faszination versetzte. So gilt wohl doch die provozierende Aussage des amerikanischen Psychologen Jerome Bruner, wonach alle alles lernen können, wenn man ihnen nur einen angemessenen Zugang zum Lerngegenstand eröffnet.
Zurzeit besteht die Theaterschule in ihrer materialen Gestalt aus einem Stück Land von 5000 m² Größe im Ortsteil San Juan von Copacabana. Es fehlt noch das Gebäude auf dem Landstück und dann fehlen noch ein paar „Kleinigkeiten“.
Wir hoffen auf Unterstützung.

Wolf Rüdiger Wilms